Drei Minuten Wartezeit am Auto während du auf einen Freund wartest. Reflexartig zückst du das Handy. Ein kurzer Blick in den Instagram-Feed – dreißig Swipes später kein einziges Lebenszeichen von Freunden, dafür ein Tanzvideo, ein skurriler Prank, ein aufgeregter Kommentar über Politik. Wir kennen diese Situationen. Was früher wie ein Fenster ins Leben der anderen war, fühlt sich heute an wie eine Dauerbeschallung durch Content-Maschinen.
Social Media ist heute weniger sozial geworden als es jemals war. Die Plattformen, die einmal Gemeinschaft versprachen, optimieren längst auf etwas anderes: unsere Aufmerksamkeit. Und die Frage ist, wie lange wir dabei noch mitspielen wollen.
Früher: Das Versprechen von Web 2.0
Um die Gegenwart zu verstehen, hilft ein Blick zurück. Mitte der 2000er Jahre brach das Zeitalter von Web 2.0 an. Plattformen wie Facebook, YouTube oder Instagram brachten eine kleine Revolution: Erstmals konnten Nutzer nicht nur lesen, sondern auch veröffentlichen, teilen, reagieren.
Die entscheidende Innovation hieß: Follow. Zum ersten Mal konntest du selbst bestimmen, wessen Inhalte in deinem Feed auftauchen sollten. Es war dein eigener, kuratierter Raum – gefüllt mit Stimmen, die du mochtest oder spannend fandest. Eine Architektur für echte Beziehungen.
Doch dieses Modell hatte einen Haken: Es war großartig für Nutzer, aber wenig lukrativ für Investoren.
Kapital-Logik: Aufmerksamkeit als Währung
Als Social-Media-Firmen an die Börse gingen, stand plötzlich nicht mehr die Verbindung zwischen Menschen im Vordergrund, sondern die Frage: Wie macht man daraus Geld?
Die Antwort kennen wir alle: Werbung! Je mehr Nutzer, je länger sie blieben, je besser die Daten – desto teurer konnten Anzeigen verkauft werden. Die Plattformen entwickelten sich zu Maschinen, die Aufmerksamkeit in Umsatz verwandelten.
Und weil das System Wachstum verlangt, gilt: Mehr Zeit, mehr Klicks, mehr Daten. Der britische Comedian Bo Burnham brachte es einmal so auf den Punkt: „Tech-Konzerne wollen nicht nur einen Teil deiner Zeit – sie wollen alles.“
Das Ergebnis: ein Finanz- und Produktdesign, das uns jede freie Minute abnehmen will.
Aufmerksamkeit ist Währung – so das Produktdesign von Social-Media
Design-Mechanik: Kleine Features, große Effekte
Dieser Hunger nach Aufmerksamkeit zeigt sich in scheinbar kleinen Designentscheidungen. 2006 erfand der Interface-Designer Aza Raskin das Konzept des Infinite Scrolls – endloses Weiterblättern ohne natürliche Stopps. Was wie eine praktische Verbesserung wirkte, entpuppte sich als Suchtmaschine: Wer keinen Punkt zum Anhalten hat, hört seltener auf.
Heute sind diese Mechanismen allgegenwärtig: Autoplay, rote Benachrichtigungs-Badges, Swipe-Gesten. Jede Interaktion ist so optimiert, dass wir noch ein bisschen länger bleiben. Das Fatale: Viele Entwickler geben selbst zu, dass sie die langfristigen Folgen unterschätzt haben. Aza Raskin bereut seine Erfindung ebenfalls.
TikTok-Moment: Der Wechsel zum Interessen-Graph
Den entscheidenden Wendepunkt brachte TikTok. Nicht das vertikale Video war die Innovation, sondern der radikale Abschied vom Follow-Prinzip. Statt deinen Freundeskreis zu spiegeln, baut TikTok dein Feed aus dem Nichts – allein aus den Daten deiner Nutzung.
Jeder Scroll ist ein Datenpunkt. Die Plattform lernt, was dich fesselt, und optimiert gnadenlos auf Verweildauer. Das Resultat: ein hochgradig süchtig machendes Erlebnis.
Weil TikTok damit so erfolgreich war, kopierten andere Plattformen nach kurzer Zeit. Aus Follow-Feeds wurden „For-You“-Feeds. Auf Instagram stammen heute gerade einmal 7 Prozent der Inhalte im Feed von “Freunden”. Der Rest ist algorithmisch ausgewählter Content, der dich möglichst lange fesseln soll.
Psychologie: Slot-Machine im Kopf
Das Prinzip dahinter gleicht einem Glücksspielautomaten: intermittierende Belohnung. Nicht jeder Post ist interessant – aber vielleicht der nächste. Diese Unsicherheit hält uns am Scrollen.
Verstärkt wird das durch einen psychologischen Mechanismus: Wir schenken negativen, aufregenden Inhalten mehr Aufmerksamkeit als ruhigen, positiven. Ein Shitstorm fesselt länger als ein Katzenfoto. Und genau das verstärkt der Algorithmus – nicht aus Bosheit, sondern weil er nur ein Ziel kennt: möglichst lange Nutzung. Das Ergebnis: Wir sind alle Süchtig.
Und die Folgen: ein permanentes Grundrauschen von Anspannung. Viele Nutzer berichten von Nervosität, sozialem Vergleich, sogar depressiven Symptomen. Wir vergleichen uns mit idealisierten Bildern, verlieren den Bezug zu unserem realen Umfeld – und merken oft erst spät, wie uns das auslaugt.
Stimmung kippt: Öffentliche Ermüdung
Interessanterweise sind die Nutzungszahlen immer noch hoch – doch die Liebe ist dahin. Eine Umfrage zeigt: Zwei Drittel der 16- bis 24-Jährigen halten Social Media für schädlich. Viele berichten, dass sie ihre Jugend rückblickend „verscrollt“ haben.
Die Journalistin Gaby Hinsliff beschreibt Social Media treffend wie eine toxische Beziehung: Man bleibt, obwohl man weiß, dass es einem nicht guttut.
Man bleibt, obwohl man weiß, dass es einem nicht guttut.
– Gaby Hinsliff
Gegenbewegung: Wege zurück zur Präsenz
Doch gleichzeitig wächst der Widerstand. Was 2018 noch exotisch wirkte – ein Social-Media-Detox für 30 Tage – ist heute Mainstream. Immer mehr Menschen löschen Apps, setzen Zeitlimits oder greifen zu Minimalismus-Handys.
Auch im öffentlichen Leben entstehen neue Rituale: Konzerte fordern, das Handy in Beuteln zu verstauen. „Offline Clubs“ laden Menschen ein, ohne Smartphones zusammenzukommen. Sogar ganze Cafés und Hotels werben inzwischen mit digitalfreier Zone.
Das Ziel ist dabei selten totale Abstinenz, sondern Balance: Technologie als Werkzeug, nicht als Dauerablenkung.
Praxis im Beruf & Team
Für Unternehmen und Kreative stellt sich die gleiche Frage: Muss jede Kommunikation über Social Media laufen? Viele beginnen, alternative Kanäle zu stärken – Newsletter, Community-Events, lokale Formate.
Auch auf Plattformen selbst gibt es Gegenstrategien: Statt täglichem Dauerfeuer lieber ein klarer Rhythmus, bewusst gewählte Inhalte, „Slow Metrics“ wie Qualität und Resonanz. Es geht darum, die eigene Arbeit nicht dem Algorithmus auszuliefern, sondern einen Rahmen zu setzen.
Es geht darum, die eigene Arbeit nicht dem Algorithmus auszuliefern
- Daniel Büscher
Ausblick: Re-Humanisierung der Netzkultur
Social Media war nie perfekt – schon früh gab es problematische Inhalte. Doch es ist in den letzten Jahren objektiv toxischer geworden. Die gute Nachricht: Es gibt Wege zurück.
Wir können unser digitales Leben neu sortieren. Weniger vom Algorithmus treiben lassen, mehr eigene Entscheidungen treffen. Weniger Dauer-Scrollen, mehr bewusste Präsenz.
Ich persönlich bin immer weniger aktiv auf den sozialen Netzwerken – und wenn, dann gerne auf dem großen Bild des Computers. Auch unser Magazin formiert sich rund um seine Content-Strategie aktuell neu. Erst recht mit neuen KI-generierten Inhalten bleibt es spannend, wie Social Media sich in den nächsten Jahren entwickelt.
Am Ende geht es um eine Rückeroberung der Aufmerksamkeit – für Beziehungen, für Kreativität, für Sinn. Vielleicht ist das die eigentliche Revolution: nicht ein neues Feature, sondern ein neues bewusstes Wählen dafür, worauf wir unsere Lebenszeit verwenden. Digital wie analog.