Vision #1 – Dein Genie finden
Ich liebe Märchen. Meine Überzeugung (ironischerweise als Chemiker) ist, dass die Welt zwar aus Objekten besteht, wir sie aber als Geschichte wahrnehmen. Deshalb glaube ich, dass Märchen und Mythen abstrahierte, ewige Wahrheiten sind, die sich in der Zeit wiederholen. Die Charaktere – also deren zugrundeliegende Motivationen und Verhaltensmuster – leben alle in uns. Wir können uns mit diesen Geschichten identifizieren, weil wir uns in sie hineinversetzen können. Wir erkennen uns wieder.
Eine meiner Lieblingsgeschichten (die ich mir regelmäßig auf der Toni-Box unserer Tochter anhöre) ist Aladdin. Die Geschichte kennt fast jeder. Ein Straßenjunge wird mit Hilfe eines Flaschengeistes, der fast jeden Wunsch erfüllen kann, zum Prinzen. Aladdin verändert sich innerlich so sehr (er wird ehrlich, mutig und aufopfernd, also tugendhaft), dass er auch ohne die Hilfe des Flaschengeistes ein Prinz wird.
Die Figur, auf die ich mich in diesem Artikel konzentrieren möchte, ist jedoch Dschinni, der Flaschengeist.
Was können wir von Dschinni lernen?
Haben wir alle einen Flaschengeist? Und wenn ja, wie können wir den Flaschengeist befreien?
Kann er uns helfen, unsere Lebensvision zu finden?
Der Dienst am Anderen
Der Flaschengeist lebt in einer absolut paradoxen Situation – fast allmächtig, aber versklavt in einer Flasche. Das ist nicht unbedingt etwas, worum wir ihn beneiden sollten. Außerdem kann der Flaschengeist seine Macht nicht nach eigenem Gutdünken einsetzen. Er kann nur die Wünsche anderer erfüllen.
Der Flaschengeist in Aladdin steht also für die Macht des Dienens und der Zusammenarbeit im menschlichen Dasein. So wie Dschinni seine Macht nur entfalten kann, wenn er anderen hilft, kann auch der Mensch seine Genialität nur entfalten, wenn er anderen hilft.
Die Forschung hat gezeigt, dass es biologisch und psychologisch „befriedigender“ ist, anderen zu helfen, als sich selbst zu helfen. Eine Studie von Jorge Moll und seinen Kollegen, die 2006 in der Fachzeitschrift Science veröffentlicht wurde, hat gezeigt, dass beim Spenden für wohltätige Zwecke dieselben Lustzentren im Gehirn aktiviert werden, die auch beim Essen und beim Sex aktiviert werden. Dies deutet darauf hin, dass es für den Menschen von Natur aus angenehm und lohnend ist, anderen zu helfen.
Altruistisches Verhalten macht uns glücklicher, als wenn wir uns selbst etwas Gutes tun. Das macht auch im Blick auf die Menschheitsgeschichte Sinn, wenn man versteht, dass Menschen nur überleben können, wenn sie kooperieren. Es gab also einen Zweck einander zu helfen. Manche Philosophen sagen deshalb, dass wir eigentlich Egoisten sind. Ich glaube nicht, dass diese Kritik etwas daran ändert, dass wir zumindest das Gefühl haben, dass es gut ist, anderen zu helfen. Im Gegenteil – ich finde es umso bewundernswerter, dass dieser Gegensatz sich in keiner Weise widerspricht. Einander dienen, auch wenn die Motive letztlich selbstbezogen sind.
Das integrierte Ego
Es ist ein weit verbreiteter Irrglaube, dass der Dienst am Nächsten und die Verfolgung eigener Ziele und Wünsche einander ausschließen. In Wirklichkeit gibt es keinen Konflikt zwischen dem (gesunden) Ego und dem Dienst am Nächsten. Tatsächlich kann der Dienst am Nächsten dazu führen, den Sinn des eigenen Lebens zu finden und die eigene Lebensvision zu verwirklichen. Dieses Geheimnis finden wir auch in der christlichen Tradition. Jesus sagt: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht.“ Schon die Natur lehrt uns also: Erst wenn wir uns für andere einsetzen, werden wir ganz. Der diakonische Dienst am Nächsten steht nicht im Widerspruch zum Ego, sondern macht uns Menschen erst vollkommen. Wir werden vollständig, indem wir uns selbst aufgeben.
Wenn wir anderen dienen, vernachlässigen wir nicht unsere eigenen Bedürfnisse und Wünsche. Vielmehr setzen wir unsere Talente und Fähigkeiten zielgerichtet und erfüllend ein. Indem wir anderen helfen, bewirken wir positive Veränderungen in der Welt, die uns ein Gefühl der Erfüllung und Zufriedenheit geben können. Es geht also darum, unsere Wünsche in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Wenn wir verstehen, dass wir geschaffen sind, um zu helfen, und dass unsere einzigartige Individualität der Schlüssel zu sozialer Kooperation ist, hilft uns das, eine viel gesündere Beziehung zu uns selbst zu haben.
Die Magie
Das Schöne an der Geschichte von Aladdin ist, dass er am Ende seinen letzten Wunsch opfert, um den Flaschengeist zu befreien. Er hält sein anfängliches Versprechen, obwohl er den Wunsch gut gebrauchen könnte, um selbst Prinz zu werden. So gesehen befreit uns der Dienst am Nächsten. Er befreit uns von falschen, oberflächlichen und impulsiven Wünschen. Er befreit uns zum Guten. Aladdin hat seine Lektion gelernt und hält sein Versprechen. Er ahmt den Dschinni nach und dient ihm. Aladdin ist kein materieller Prinz mehr – aber dann geschieht der Zauber. Weil er sein Herz verwandelt hat, ändert der Sultan das Gesetz und Aladdin darf die Prinzessin Jasmin heiraten, obwohl er die üblichen Voraussetzungen nicht erfüllt. Er wird zum Prinzen im Herzen und damit auch im Äußeren.
Wie können wir wissen, ob das auch in unserem Leben so ist?
Das können wir nicht. Wir müssen einen Kierkegaard’schen Glaubenssprung wagen und uns ganz darauf einlassen.
Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. All in.