Stabilität überall
Die heutige Welt ist besessen von Stabilität.
Politiker versuchen, die Ökonomie zu „reparieren“. Die Wirtschaft drucke endlos Geld. Wälder werden übermäßig geschützt, indem man totes Holz bewässert. Ärzte behandeln Patienten mit cholesterinsenkenden Medikamenten und ignorieren die schädlichen Nebenwirkungen. Obwohl die Absicht hinter diesen Eingriffen gut ist, ist der Effekt oft gegenteilig.
Es heißt: Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.
Das Drucken von Geld verhindert kurzfristig den Zusammenbruch von Unternehmen, zerstört aber die Prinzipien der wettbewerblichen Innovation. Das Bewässern von Totholz reduziert kleine Waldbrände, riskiert aber größere. Die Senkung des Cholesterinspiegels durch die Einnahme von Medikamenten ist kurzfristig erfolgreich, senkt aber die durchschnittliche Lebenserwartung.
Es ist nur eine Frage von Jahren, bis sich unser Kontrollwahn auch auf das Wetter und das Klima ausdehnt. Warum sind wir so besessen von Kontrolle, wo doch das Chaos offensichtlich Teil unseres Universums ist?
Determinismus vs. Interdependenz
Das Problem hinter der Kontrolle ist die Annahme, dass die Welt mechanisch wie eine Uhr funktioniert. Man kann eine Uhr reparieren, indem man ihre mechanischen Prinzipien versteht und die kaputten Teile austauscht. Aber der menschliche Körper, die Wirtschaft und der Wald sind keine Maschinen. Es sind Organismen – Ökosysteme, die lebendig sind. Ein ineinander verflochtenes Netz von Variablen, die sich gegenseitig beeinflussen. Ein System, in dem sich Ursache und Wirkung in Komplexität auflösen.
Vorhersagen darüber zu machen, wie sich diese organischen Systeme unter Variation verhalten, ist naiv. Die „Fragilisten“, wie Nassim Taleb diese rationalen Stabilisatoren nennt, sind dogmatische Deterministen. Sie glauben, die Welt sei vollständig zu verstehen. Und wenn man alle Ursachen findet, kann man alles reparieren. Diese Logik steckt hinter jedem totalitären Denken.
Sie entspringt dem Wunsch nach Allmacht (vielleicht, weil „Gott tot ist“ – Nietzsche) und der Unkenntnis von kaskadenförmigen Effekten, die höhere Ordnungen erschaffen. Die stabilisierende Ideologie lebt in einer Newtonschen Welt, gemischt mit dem Laplace’schen Determinismus, während die Realität eine Quantenkomplexität ist, die nach der Unschärferelation funktioniert.
Das Unbekannte ist eine Konstante in unserer Welt. Und möglicherweise ist sie eine freundliche Ressource.
Chaos einladen
Der „Fragilist“ irrt, wenn er alles von oben nach unten regeln will. Er versteht nicht, wie Evolution, Entwicklung und Leben funktionieren.
Denn: Die Welt verändert sich ständig. Die einzige Art und Weise, wie das Leben die Herausforderung einer sich ständig verändernden Umwelt bewältigen kann, besteht darin, neue Varianten zu schaffen und zu sehen, was überlebt. Das Neue ist also gleichbedeutend mit Chaos. Aber das Neue ist nicht notwendigerweise erfolgreich. Sich ständig verändernde Bedingungen erfordern Experimente. Das Neue ist per definition also unvorhersehbar. Es plant nicht. Eigentlich ist es sogar planlos. Aber es macht besser!
Antifragil
Als ich das Buch „Antifragil“ von Nassim Taleb entdeckte, eröffnete sich mir eine neue Welt. Talebs Konzept war wie ein Puzzle, das mein Weltbild vervollständigte. Seitdem steht es auf meiner ständigen Re-Reading Liste. Es ist ein Gegenentwurf zu einer Welt, die von Kontrolle besessen ist und der es deshalb an ihr mangelt.
Antifragil ist das Gegenteil von zerbrechlich. Glas zerbricht, wenn es auf den Boden fällt. Taleb beschreibt jedoch, dass bestimmte Dinge, vor allem organische, von Unordnung profitieren. Knochen zum Beispiel werden nach bestimmten gewichtstragenden Aktivitäten wie Gehen, Laufen oder Springen dichter. Der Körper passt sich an, indem er stärkere Knochen bildet. Die Natur hat also ein Element, das von Chaos, Stress und dergleichen profitiert. Entropie und Chaos als Freunde. Kräfte, die zur Verbesserung führen.
Das Fragile hasst das Chaos. Das Antifragile profitiert vom Chaos.
- Dr. Patrick May
Das Tiefgründige daran ist, dass dieser Gedanke noch nie explizit ausgesprochen wurde. Nassim Taleb ist der erste, der ein Konzept ins Rampenlicht stellt, das Kulturen seit langem implizit kennen und in ihren Mythologien dramatisiert haben. Das Konzept ist natürlich nicht auf Knochen beschränkt und wird oft als Resilienz oder Robustheit missverstanden.
Psychologen zum Beispiel sprechen viel über Resilienz. Aber Resilienz bedeutet, dass etwas zu einem Normalzustand zurückkehrt. Im Vergleich dazu ist etwas antifragil, wenn es nach einer Belastung stärker, aber nicht gleich ist. Es hat ein Element hinzugewonnen, das vorher fehlte. Menschen haben Schwierigkeiten, dies zu verstehen. Ein nicht-tödlicher Stressor führt zu etwas Besserem. Nassim Taleb hat eine tiefe Wahrheit aufgedeckt, die in der westlichen Philosophie weitgehend verborgen ist.
Nur die Zeit wird zeigen, ob die heutigen „Stabilisatoren“ sie auch entdecken werden. Ich vermute fast, dass sie es auch werden. Das würde dem Geist der Anti-Fragilität entsprechen.
Denn vielleicht ist auch die menschliche Kultur in ihrem Kern antifragil.